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Prof. Dr. Christian Hillgruber, Bonn

Forschungsfreiheit und Embryonenschutz

Verfassungsrechtliche und rechtsethische Überlegungen

I. Einleitung

Darf an menschlichen Embryonen geforscht werden? Dürfen embryonale Stammzellen importiert werden, für deren Gewinnung menschliche Embryonen getötet werden müssen? Diese Fragen haben Deutschland im Vorfeld der Entscheidung des Deutschen Bundestages, das Stammzellgesetz zu novellieren und den für die prinzipielle Zulässigkeit der Einfuhr im Ausland gewonnener Stammzelllinien bisher maßgeblichen Stichtag zu verschieben, bewegt und gespalten, und sie haben sich auch mit dieser gesetzgeberischer Entscheidung nicht erledigt. Während die einen hoffen, dass eines Tages mit Hilfe embryonaler Stammzellen Therapien für bisher unheilbare Krankheiten entwickelt werden können, beharren die anderen auf der Unteilbarkeit des Schutzes des Lebens und der Würde jedes Menschen, auch schon im embryonalen Stadium seiner Entwicklung.

Wie sind die aufgeworfenen Fragen verfassungsrechtlich und ethisch zu beantworten? Ich will mich auf die verfassungsrechtlichen Aspekte des Themas konzentrieren, am Ende aber auch noch rechtsethische Überlegungen anstellen.

II. Schutzrichtung und Reichweite der grundrechtlichen Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG)

Das Stammzellgesetz verfolgt ausweislich seines § 1 den Zweck, „die Menschenwürde und das Recht auf Leben zu achten und zu schützen und die Freiheit der Forschung zu gewährleisten“. Der Gesetzgeber ging, wie der Begründung des Gesetzes zu entnehmen ist, davon aus, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen und deren Einfuhr zu diesem Zweck in den Schutzbereich der nach Art. 5 Abs. 3 GG vorbehaltlos garantierten Wissenschafts- und Forschungsfreiheit falle und dass daher ein vollständiges Verbot der Einfuhr und der Verwendung embryonaler Stammzellen nicht zu rechtfertigen sei, der angeblich gebotene verfassungsmäßige Ausgleich vielmehr durch ein prinzipielles Importverbot mit beschränktem, an strenge Zulassungsvoraussetzungen geknüpften Erlaubnisvorbehalt herzustellen sei[1].

Diese verfassungsrechtlichen Grundannahmen des Gesetzgebers sind jedoch in mehrfacher Hinsicht verfehlt.

Das gilt zunächst für die angenommene Reichweite der Wissenschaftsfreiheit. Sie schützt „die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen beim Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe“[2]. Unter Forschung ist der „nach Inhalt und Form [...] ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung der Wahrheit“, die „Tätigkeit mit dem Ziel, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“, zu verstehen[3]. Das Grundrecht der Forschungsfreiheit, ein Unterfall der Wissenschaftsfreiheit, garantiert danach vor allem die freie Wahl von Fragestellung und Methodik, sowie die von staatlicher Behinderung freie Forschungsarbeit einschließlich der Bewertung ihrer Ergebnisse. Der als Richtmaß dienende innere Sinn der Forschungsfreiheit besteht daher, worauf Peter Lerche schon Mitte der 1980er Jahre hingewiesen hat, primär im Verbot staatlichen Forschungsrichtertums und zielt „nicht auf irgendeine Bevorzugung gegenüber jenen kollidierenden Rechtsgütern“, „deren Rechtssubstanz durch Forschung instrumental beansprucht werden soll“[4].

Die Forschungsfreiheit gehört ebenso wie die Kunstfreiheit zu den sog. vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, die keine Ermächtigung des Gesetzgebers zu  ihrer Beschränkung kennen. Es wäre indes abwegig, darin eine bewusste und gewollte Privilegierung der äußeren Handlungsfreiheit des Forschers oder Künstlers gegenüber anderen, vermeintlich weniger schutzwürdigen oder schutzbedürftigen Verhaltensfreiheiten erblicken zu wollen d.h. die Schrankensystematik als Ausdruck einer impliziten Wertrangordnung zu begreifen. Man wird dem Verfassunggeber doch wohl kaum unterstellen dürfen, dass er etwa das Lebensrecht als die „vitale Basis“ aller anderen Grundrechte oder die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 1 u. 2 GG), weil jeweils unter einfachen Gesetzesvorbehalt gestellt, geringer als die Kunst- und Forschungsfreiheit geschätzt hat. Es wäre zudem völlig ahistorisch anzunehmen, die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die noch unter dem unmittelbaren, schockartigen Eindruck der grauenvollen Menschenversuche standen, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus von skrupellosen Medizinern an hilf- und wehrlosen Menschen vorgenommen worden waren, hätten solcher „Forschung“ zum Schaden Dritter auch nur ansatzweise irgendeinen grundrechtlichen Schutz angedeihen lassen wollen. Vielmehr drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass der Verfassunggeber bereits den Schutzbereich der zuletzt genannten Grundrechte so zugeschnitten hat, dass Kollisionen mit (Grund-)Rechten anderer von vornherein ausscheiden, es daher einer Beschränkung dieser grundrechtlichen Freiheit „von außen her“ gar nicht mehr bedarf. Grundrechtliche Freiheit kann, soweit sie Rechte und Rechtsgüter anderer in Mitleidenschaft zu ziehen geeignet ist, keine unbeschränkte bzw. unbeschränkbare sein. Das Fehlen einer Schrankenregelung ist daher ein Indiz für eine von vornherein, d.h. bereits tatbestandliche Begrenzung der Reichweite einer bestimmten Freiheitsgarantie. Für die die vom Grundgesetz gewährleistete Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) bedeutet dies, dass sie zwar einen von staatlicher Einflussnahme freien Erkenntnisprozess bei der methodisch angeleiteten und geordneten, planmäßigen Suche nach Wahrheit garantiert, aber den Forscher schon von vornherein nicht zur selbstherrlichen Disposition über fremde Rechtsgüter ermächtigt, auch wenn er ihrer als „Forschungsmaterial“ bedürfen sollte. „Wer wissenschaftlich arbeitet, ist keiner amtlichen Wahrheitsdefinition unterworfen, aber doch nicht zum Zugriff auf Eigentum, Körper oder Persönlichkeitsrechte anderer [...] berechtigt“.[5] Der Forscher genießt zwar „alle Freiheit des Forschens, aber nicht des Bewirkens nachteiliger Folgen für Dritte“[6]. Der Verfassunggeber hielt die Etablierung gesetzlicher Schranken für entbehrlich, nicht weil er die Forschungsfreiheit überbewertete, sondern weil er schon den Schutzbereich der Freiheitsgewährleistung auf den eigenen Rechtskreis des Forschers beschränkte und deshalb bei Ausübung der so begrenzt verstandenen Forschungsfreiheit gar kein vom Gesetzgeber zu entschärfendes Sozialkonfliktpotential entstehen konnte.

Die Gegenauffassung, die gegenläufige Rechte und Rechtsgüter anderer erst auf der Schrankenebene in den Blick nehmen und Kollisionslagen mittels verfassungsimmanenter Abwägung bewältigen will[7], vermag keinerlei Gründe für eine darüber hinausgehende Privilegierung der Wissenschaftsfreiheit anzuführen. Der Schutzzweck der Wissenschaftsfreiheit besteht allein darin, staatliche Einwirkungen auf den Gewinn und die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse abzuwehren, weil diese mit dem Selbstverständnis und Anspruch der Wissenschaft als planmäßiger und methodisch angeleiteter Suche nach Wahrheit schlechthin unvereinbar sind.

Die Wissenschaftsfreiheit gilt also nur „der spezifischen wissenschaftlichen Betätigung erlaubten Verhaltens“[8]. Die Erstreckung der Handlungsfreiheit der medizinischen Forschung auf fremde Rechtsgüter setzt die – Grundrechtsverletzungen ausschließende – Einwilligung des dispositionsbefugten Rechtsgutsträgers voraus.

Der tiefere Grund für diese an sich selbstverständliche, bereits tatbestandliche und abwägungsresistente Begrenzung der Freiheit des Wissenschaftlers und Forschers liegt in der Garantie der Untastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Jedem Menschen kommt um seiner selbst willen ein nicht nur von der staatlichen Gewalt[9], sondern, wie sich entstehungsgeschichtlich belegen lässt[10], auch von jedem privaten Dritten unbedingt zu achtender Wert zu. Die Unantastbarkeitsformel garantiert die Achtung der Menschenwürde umfassend[11]. Ein Mensch ist – für jedermann verbindlich – selbständige Person, nicht verfügbare Sache, er gehört niemandem anders als sich selbst und muss deshalb stets Zweck an sich selbst bleiben[12]. Mit dem Eigenwert jedes Menschen aber ist die eigenmächtige und eigennützige Inanspruchnahme von Leib und Leben eines Dritten kategorisch ausgeschlossen.

Der würde- und freiheitsbegabte Mensch ist Rechtssubjekt, nicht Forschungsobjekt. Die Forschungsfreiheit findet in der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1mGG) von vornherein ihre absolute tatbestandsimmanente Grenze. „Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt seines Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren“[13].

Die grundrechtlich geschützte Wissenschafts- und Forschungsfreiheit hat allerdings nicht nur eine Abwehr-, sondern auch eine Förderdimension. Die allgemeine staatliche Pflicht, Forschung und Wissenschaft zu fördern und die Rahmenbedingungen zu schaffen, die Forschung und Wissenschaft erst möglich machen und gedeihen lassen, wird durch die besondere Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit kranker Menschen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verstärkt. Diese staatliche Schutzpflicht gebietet zwar dem Grunde nach die Unterstützung medizinischer Forschung, die – mittel- oder langfristig – Heilungschancen für bisher unheilbare Krankheiten verspricht, jedoch keinesfalls – auch dem steht die Garantie der Untastbarkeit der Menschenwürde zwingend entgegen – auf Kosten Dritter[14].

III. Der verfassungsrechtliche Status des Embryos

Die Forschung an und mit menschlichen Embryonen sowie der Import und die Verwendung embryonaler Stammzellen fallen folglich von vornherein nicht in den Schutzbereich der Forschungsfreiheit, wenn sie grundrechtlich geschützte fremde Rechtsgüter berühren.

Daher stellt sich die alles entscheidende Frage nach dem verfassungsrechtlichen Status des menschlichen Embryos. Ist er Mensch und Rechtsperson, dann scheidet er als Forschungsobjekt schlechterdings aus. Ist er es nicht, so mag man ihm gleichwohl – abwägungsoffen – rechtlichen Schutz angedeihen lassen, verfassungsrechtlich geboten wäre dies dann aber nicht.

Die „Würde des Menschen“, von der in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG die Rede ist, erscheint als der eigentliche Schlüsselbegriff des Grundrechtsabschnitts des Grundgesetzes[15], und was mit „Würde“ in diesem Sinne gemeint war, darüber bestand im Parlamentarischen Rat kein Zweifel. Würden haben bedeutet, Rechtssubjekt sein. Jeder Mensch ist Rechtssubjekt. Jeder Mensch ist kraft des in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG liegenden Anerkennungsakts[16] Person. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes, für die deutsche Staatsgewalt, ist kein Mensch bloß Objekt. Das heißt: Der Staat darf niemals über einen Menschen wie über eine Sache verfügen. Würde haben heißt niemals und nirgends ganz rechtlos dastehen. Jeder Mensch bringt, das macht Art. 1 Abs. 2 GG, das Bekenntnis des deutschen Volkes zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten als Folge der Menschenwürde deutlich, eine gewisse Mindestausstattung an Rechten mit in die Rechtsordnung. Sie hat für den Schutz dieser Rechte zu sorgen, kann ihn mit weiteren Rechten ausstatten, aber nur insoweit mit Pflichten belasten, als es diese Mindestausstattung erlaubt. Das heißt: Kein Mensch fängt – rechtlich betrachtet – bei Null an. Kein Mensch muss darauf hoffen, nach Maßgabe seiner „Würdigkeit“ von der durch Menschen gemachten Rechtsordnung erst Rechte verliehen zu bekommen. Einen Grundbestand an „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (Art. 1 Abs. 2 GG) bringt er – als Grundausstattung sozusagen – mit, weil er Mensch ist, nur weil er Mensch ist, und das Grundgesetz umhegt sie mit unmittelbar geltendem Grundrechtsschutz (Art. 1 Abs. 3 GG).

Wer aber hat Würde in diesem Sinne? Jeder Mensch, heißt es lapidar in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Das heißt: jedes lebende Wesen, das der Subspezies Homo sapiens sapiens angehört.[17] Die bloße Tatsache, biologisch zur Subspezies Homo sapiens sapiens zu gehören, ist hinreichend, aber auch notwendig, um Würde zu haben, um Achtung und Schutz des Staates einfordern zu können, um Träger der „nachfolgenden Grundrechte“ (Art. 1 Abs. 3 GG) des Grundgesetzes zu sein. In Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG ist nur vom Menschen die Rede, nicht vom Menschen ab Nidation, nicht vom geborenen Menschen, nicht von dem durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichneten Menschen. Daran kann der Interpret nicht vorbei. Die dem, also jedem Menschen in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG zugesprochene Würde, die ihm von Verfassungs wegen entgegengebrachte Wertschätzung gilt unabhängig von seinem Entwicklungsstand, ungeachtet seiner Fehler und Schwächen, seiner Fähigkeiten oder Unfähigkeiten; sie kann weder durch eigenes, „unwürdiges“ Verhalten noch durch die soziale Missachtung einer Person verloren gehen. In den Worten des BVerfG: „Menschenwürde ist ... die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistiges Zustands nicht sinnhaft handeln kann.“[18]

Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung besitzt schon das ungeborene menschliche Leben jedenfalls ab Nidation ein eigenes Lebensrecht und kommt auch ihm schon Menschenwürde zu, „nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität“[19]. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“, hat das Bundesverfassungsgericht in der ersten Abtreibungsentscheidung von 1975 formuliert und in der zweiten von 1993 gegen die daran im Schriftttum geübte Kritik bekräftigt[20]. Zur Begründung dieses unauflöslichen Zusammenhangs hat es festgestellt: „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen“ [21]. Konsequenterweise erteilte das BVerfG der Konzeption eines abgestuften Lebensschutzes eine klare Absage: „Liegt die Würde des Menschseins auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen, so verbieten sich jegliche Differenzierungen der Schutzverpflichtungen mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens oder die Bereitschaft der Frau, es weiter in sich leben zu lassen“[22].

In der zweiten Abtreibungs-Entscheidung aus dem Jahr 1993 hat das Gericht ausgeführt, dass es „im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung [bedürfe], ob, wie es Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie naheleg[t]en, menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteh[e]“[23]. Eine sinnvolle Unterscheidung zwischen prä- und postnidativer Phase lässt diese Argumentation nicht zu; dass der Embryo vor Nidation ausgeklammert bleibt, hat rein verfahrensrechtliche Gründe. Die tragenden Argumente, die das Gericht für den Würdeschutz und das Lebensrecht des nasciturus anführt[24], beziehen sich eindeutig auch auf den Embryo vor der Nidation[25]. In seiner Luftsicherheitsgesetz-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in Kontinuität seiner Rechtsprechung ausgeführt, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG das Recht auf Leben „als Freiheitsrecht“ gewährleiste und dass „[m]it diesem Recht […] die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit, gegen staatliche Eingriffe geschützt“ werde[26]. „Vom Zeitpunkt ihres Entstehens an“ – also zumindest vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an[27] – existiert eine neue menschliche Entität, die – die richtigen Rahmenbedingungen vorausgesetzt, zu denen auch die Einnistung in der Gebärmutter gehört – ohne weitere Dazutun sich zu einem erwachsenen Menschen entwickeln kann; sie hat die aktive Potentialität dazu[28]. Daher ist auch der Embryo in vitro (schon) ein Mensch. Der vermeintliche „Zellhaufen“ in der Petrischale ist nichts anderes als der Körper eines Menschen, der ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat und dessen Würde unantastbar ist[29].

Daher stellt, das räumt selbst Matthias Herdegen ein, der verfassungsrechtlich gebotene normative Schutz von Embryonen, wie ihn das Embryonenschutzgesetz anordnet, „überhaupt keinen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit“ dar[30].

IV. Die verfassungsrechtliche Bewertung der Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen

Wie aber steht es mit den embryonalen Stammzellen? Dass diese selbst nicht Grundrechtsträger sind, ist unstreitig. Aber wie wirkt es sich aus, dass sie – bisher jedenfalls –nur unter Tötung der Embryonen in vitro, denen sie entnommen werden, gewonnen werden können?

Der Gesetzgeber des Stammzellgesetzes von 2002 geht zwar davon aus, dass embryonale Stammzellen „in ethischer Hinsicht […] nicht wie jedes andere menschliche biologische Material angesehen werden“ könnten, da „zur Gewinnung embryonaler Stammzellen Embryonen verbraucht werden“ müssten[31]. Ein verfassungsrechtliches Problem erblickte er darin jedoch nicht: „Der Erwerb nicht in Deutschland hergestellter embryonaler Stammzellen sowie die Forschung mit ihnen einschließlich ihrer Vermehrung und Kultivierung steht nicht im Konflikt mit anderen Verfassungsgütern, sofern er auf bereits existierende Stammzellen beschränkt wird“[32]. Ganz in diesem Sinne ist auch in der verfassungsrechtlichen Literatur behauptet worden, dass die über eine Stichtagsregelung hinausgehenden Regelungen »lediglich moralische Überzeugungen« schützten[33].

Diese Annahme ist jedoch verfehlt. Wer embryonale Stammzellen erwirbt und an ihnen forscht, erwirbt und verwendet menschliche Körpersubstanz – Körpersubstanz, die dem Menschen, von dem sie stammt, auch nach dessen Tod rechtlich zugeordnet bleibt. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) wird in der Diskussion oft übersehen, ist hier jedoch einschlägig: Jeder Mensch – auch der schon verstorbene Mensch – hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Obduktion zur Aufdeckung von Straftaten, die Entnahme von Organen zur Transplantation, der Umgang mit dem Leichnam berühren das Recht des verstorbenen Menschen auf körperliche Unversehrtheit[34]. Die Frage, ob auch die Würde des Embryos betroffen ist, kann daher zunächst im Hinblick auf die reklamierte Forschungsfreiheit offen bleiben; denn jedenfalls steht der Import und die Verwendung embryonaler Stammzellen im Konflikt mit anderen Verfassungsgütern. Wenn der Gesetzgeber diesen Konflikt regelnd bewältigt, beschränkt er nicht die grundrechtlich geschützte Freiheit des Forschers, die schon dem Grunde nach so weit gar nicht reicht. Das bedeutet: Die Regelungen des Stammzellgesetzes, die die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen einschränken, beinhalten – ebenso wie die strafbewehrten Verbote des Embryonenschutzgesetzes – gar keinen Eingriff in die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) der Stammzellforscher, denn, ich wiederhole es noch einmal, „die Selbstbestimmung des Forschers erfasst nicht die Verfügung über ein anderes Grundrechtssubjekt“[35].

Dessen ungeachtet könnte der Gesetzgeber jedoch möglicherweise, auch ohne durch die grundrechtliche Forschungsfreiheit dazu gezwungen zu sein, also gewissermaßen überobligationsmäßig und in der Hoffnung auf mögliche künftige, lebensverlängernde oder lebenserhaltende Therapien mit embryonalen Stammzellen, deren weitere Erforschung gesetzlich erlauben. Diese Erlaubnis greift zwar, wie gesehen, in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der dafür getöteten Embryonen ein, aber diese Eingriff ließe sich vielleicht auf der Grundlage des einfachen Gesetzesvorbehalts, unter dem dieses Grundrecht steht (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG), verfassungsrechtlich hinreichend rechtfertigen.

Anders verhielte es sich aber, wenn auch die Würde der zur Stammzellgewinnung in ihrem frühesten embryonalen Stadium vernichteten Menschen betroffen wäre, nicht nur bei dem Vorgang der Stammzellgewinnung selbst, sondern auch durch den Import und die Verwendung der Stammzellen.

Wenn die Gewinnung von Stammzellenlinien durch verbrauchende Embryonenforschung menschenunwürdig ist, muss dies dann nicht in gleicher Weise auch für deren – durch Erlaubnis des Imports ermöglichte – Verwertung gelten? Es ist zwar weder moralisch noch rechtlich prinzipiell ausgeschlossen, die rechtswidrige Erlangung von Erkenntnissen oder Erkenntnismitteln anders zu behandeln als die Aus- und Verwertung des rechtswidrig Erlangten. Das belegt exemplarisch die strafprozessrechtliche Diskussion um die Reichweite sogenannter Beweisverwertungsverbote, die durchaus nicht in strenger Akzessorietät stets und notwendig aus anerkannten Beweisgewinnungsverboten folgen. Handelt es sich aber um einen gravierenden und irreparablen Rechtsverstoß, so schlägt die Rechtswidrigkeit des Erkenntnisgewinns auf die Beurteilung ihrer Verwendung durch, begründet das Erhebungs- zugleich ein Verwertungsverbot. So taugt, um nur ein Beispiel zu nennen, ein durch Folter erlangtes Geständnis schlechthin nicht als Beweismittel.

Art. 1 Abs. 1 GG verbietet dem Gesetzgeber nicht nur eigene Antastungen der Menschenwürde, sondern verpflichtet ihn auch zur „Achtung“ der Würde des Menschen. Die gesamte Rechtsordnung und damit auch das Stammzellgesetz muss Ausdruck dieser Achtung sein. Es reicht daher nicht aus, dass der Gesetzgeber keine neuen Anreize zur Herstellung und Vernichtung menschlicher Embryonen schafft. Wenn er die Einfuhr und Verwendung von Stammzellen freigibt, obwohl er weiß, dass diese durch die stets würdewidrige Zerstörung menschlicher Embryonen gewonnen wurden, bringt er damit zum Ausdruck, dass er die Würde dieser Menschen geringer achtet als die Begehrlichkeiten, Interessen und Hoffnungen, die mit der Forschung an embryonalen Stammzellen verbunden sind. Genau das aber verbietet ihm die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), auch der Menschen, die bereits in ihrem frühesten embryonalen Stadium getötet worden sind, und diese Pflicht setzt der Forschungsfreiheit eine verfassungsrechtlich unübersteigbare Grenze. Nur indem er die Einfuhr und Verwendung der durch Tötung gewonnenen embryonalen Stammzellen strikt verbietet, erweist der Staat des Grundgesetzes denen, deren Würde er nicht schützen konnte, den Respekt, den er auch ihnen schuldet, noch über ihren Tod hinaus[36]. Die deutsche Staatsgewalt darf aus Gründen der Achtung der Menschenwürde nicht zulassen, dass aus einem im Ausland realisierten Tatbestand, der nach grundgesetzlichen Wertmaßstäben die Menschenwürde verletzt, im Inland ein Vorteil gezogen wird, auch wenn dieser Vorteil „nur“ in einem erstrebten Erkenntnisgewinn, einem „intellektuellen Mehrwert“ besteht. Diese Form der Nutznießung ist auch dann, wenn man für die ihr vorausgegangene Menschenwürdeverletzung keine Verantwortung trägt, nicht nur moralisch anstößig, sondern auch verfassungsrechtlich inakzeptabel: Die Früchte des verbotenen Baumes darf man nicht essen, gleich wo der Baum steht und wer die Früchte geerntet hat.

Die Pflicht zur Achtung der Würde der im embryonalen Stadium verbrauchten Menschen (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), die neben die Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit der bei der Stammzellgewinnung vernichteten Embryonen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) tritt, zieht der –grundrechtlich nicht gebotenen – Forschungsförderung eine definitive Schranke: bis hierhin und nicht weiter! Die Achtungspflicht, die, wie das BVerfG in dem berühmten Mephisto-Beschluss entschieden hat, nicht mit dem Tod eines Menschen endet[37], ist weder auf Deutsche noch auf in Deutschland befindliche Menschen beschränkt[38], sondern gilt gegenüber allen Menschen. Und sie ist vor allem unbedingt, gebietet daher unter allen Umständen die Ächtung der Forschung mit embryonalen Stammzellen, für deren Gewinnung Menschen in einer ihren Eigenwert verletzenden, ihrer Subjektstellung missachtenden, d.h. ihre Würde antastenden Weise getötet werden mussten.

Es ist verfassungsrechtlich unerheblich, dass das Stammzellgesetz nur unter vermeintlich strengen Voraussetzungen die Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen erlaubt, die vor einem bestimmten Stichtag, also in der Vergangenheit, im Ausland und in Übereinstimmung mit der dortigen Rechtslage gewonnen wurden.

Denn nach den für die Frage der Zulassung der Einfuhr nach Deutschland allein maßgeblichen Wertmaßstäben des Grundgesetzes ist dies unter keinen Umständen hinnehmbar. Die zuständige Genehmigungsbehörde müsste demzufolge eigentlich alle Anträge ablehnen, weil die Genehmigung gem. § 4 Abs. 3 S. 1 StZG zu versagen ist, „wenn die Gewinnung der embryonalen Stammzellen offensichtlich in Widerspruch zu tragenden Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung erfolgt ist“. Solange die Entnahme embryonaler Stammzellen zum Absterben der Blastozyste führt, ist das stets und ausnahmslos der Fall. Im Stammzellgesetz heißt es dann aber weiter: „Die Versagung kann nicht damit begründet werden, dass die Stammzellen aus menschlichen Embryonen gewonnen wurden.“ (§ 4 Abs. 3 S. 2 StZG). Was ist von einer solchen Regelung zu halten? Sie dokumentiert die Unmöglichkeit von Kompromissen in dieser Frage, und sie ist offenkundig verfassungswidrig, weil sie der Genehmigungsbehörde verbietet, den verfassungsrechtlich maßgeblichen Gesichtspunkt zu berücksichtigen und die einzig verfassungsgemäße Entscheidung zu treffen: Keine Einfuhr, keine Verwendung embryonaler Stammzellen.

Wer zwar die verbrauchende Forschung an „deutschen“ Embryonen für verfassungswidrig hält, aber keine Bedenken gegen die an „ausländischen“ hegt – nach dem Motto: „mit denen kann es machen“ –, und deshalb für den Import im Ausland durch Tötung ausländischer Embryonen gewonnener embryonaler Stammzellen plädiert, stellt den, wie das Bekenntnis des deutschen Volkes zu Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft in Art. 1 Abs. 2 GG zeigt, nicht territorial beschränkten Geltungsanspruch des Grundgesetzes in Frage.

Auch der Umstand, dass es sich bei den zur Stammzellgewinnung vernichteten Blastozysten in der Regel um sog. überzählige Embryonen handelt, die bei einer künstlichen Befruchtung „anfallen“ und nicht mehr „benötigt“ werden, ist verfassungsrechtlich für den Würdeanspruch und das Lebensrecht irrelevant: So wenig Eltern ihr geborenes Kind für die Forschung „spenden“ dürfen[39] – sei es auch todkrank oder für sie aus irgendwelchen Gründen nicht mehr von Nutzen –, haben sie das Recht, einen Embryo, den die Mutter nicht austragen kann oder will und für den sich keine Ersatzmutter finden lässt, zur Tötung „freizugeben“. Dass die Einfuhr im Ausland gewonnener Stammzellen nach dem Stammzellgesetz die Zustimmung der Gametenspender voraussetzt (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 1 c) StZG), macht die Sache daher nicht besser: Die fehlende Einwilligung des Embryos, der seinen (Über-)Lebenswillen noch nicht zu artikulieren vermag, kann nach deutschem Verfassungsrecht durch die Zustimmung der Eltern nicht ersetzt werden. Das fiduziarische, in ausschließlicher Orientierung am Kindeswohl auszuübende Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) verleiht kein Verfügungsrecht über Leben und Würde der Nachkommenschaft, und damit auch nicht das Recht, sie – vermeintlich drittnützig – medizinischer Forschung zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich um die Verfügung von Nichtberechtigten, die zu keinem Grundrechtsverlust führen kann.

Dass solche sogenannten „überzähligen“ Embryonen, falls sich keine zur Austragung bereite Ersatzmutter findet, nicht als Mensch geboren werden, sondern ohnehin sterben müssen, spielt ebenfalls keine Rolle: Wenn das Recht auf Leben für Menschen, die ohnehin sterben müssen, nicht gelten würde, würde es für keinen von uns gelten. Nein, dieses Recht gilt „bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit“ – so hat es das Bundesverfassungsgericht formuliert, und es hat ausdrücklich klargestellt, dass es auf die voraussichtliche Dauer des individuellen menschlichen Lebens nicht ankommt, weil der Mensch selbst nach seinem Tod Anspruch auf Achtung seiner Würde hat.[40] „Chancenlosigkeit für ein Weiterleben eröffnet keineswegs die Möglichkeit des existenzzerstörenden Zugriffs“, schreibt Wolfram Höfling im Sachsschen Grundgesetzkommentar mit Recht[41]. Umgekehrt muss es erlaubt sein zu fragen, ob die Erfüllung des auf natürlichem Wege nicht realisierbaren Kinderwunsches – verfassungsrechtlich betrachtet – so schwer wiegt, dass sie es rechtfertigt, dafür das keinesfalls ganz zu vernachlässigende Risiko des Entstehens sog. überzähliger Embryonen in Kauf zu nehmen. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, dass ich da meine Zweifel habe.[42]

Es bleibt dabei: Auch die Verwertung embryonaler Stammzellen ist der Gewinnungsprozedur wegen von Verfassungs wegen schlechthin inakzeptabel.

Das demnach verfassungsrechtlich gebotene rigide Importverbot ist auch, darauf sei nur ergänzend hingewiesen, mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar. Auch wenn man die Stammzellenlinien trotz ihrer Gewinnung aus menschlichen Embryonen anders als diese nicht selbst als „res extra commercium“, sondern als verkehrsfähige „Ware“, als patentfähiges und handelbares Produkt einstuft[43] und damit die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EGV) als tatbestandlich einschlägig ansieht, ist ein diskriminierungsfreies, ausnahmslos geltendes Importverbot gleichwohl gemäß Art. 30 EGV gerechtfertigt. Zwar könnte im  Hinblick auf den Lebensschutz als Rechtfertigungsgrund argumentiert werden, dass das Verbot der Einfuhr bereits vor Erlass des Verbots gewonnener Stammzellenlinien keine präventiven Schutzwirkungen mehr zu erzielen vermag und deshalb insoweit unverhältnismäßig wäre. Das weitergehende, repressive Verbot ist jedoch aus Gründen der öffentlichen Ordnung – ein von jedem Mitgliedstaat nach seinen Maßstäben auszufüllender, unbestimmter Rechtsbegriff[44]  – bzw. der immanenten Schranke eines „zwingenden Erfordernisses“, nämlich der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), geboten. Dabei handelt es sich nämlich um eine die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland prägende Essentiale, an der die Integrationsermächtigung des Grundgesetzes zur Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG ihre absolute Grenze findet[45] und auf die Rücksicht zu nehmen die Europäische Union aufgrund der von ihr geschuldeten Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV) gehalten ist. Dass auch der EuGH diese Grenze anerkannt, zeigt seine bekannte Laserdrome-Entscheidung[46].

V. Auf dem Weg in den Utilitarismus?

Warum, so mag abschließend der eine oder andere unter ihnen fragen, setzt sich im Parlament trotz letztlich eindeutiger Rechtslage gleichwohl eine andere, inkonsequente, ganz und gar pragmatische Sichtweise durch, die zwar den Embryonenschutz in Deutschland nicht (noch nicht?) aufheben will, aber gleichwohl an den Forschungsperspektiven teilhaben will und deshalb zu Forschungszwecken den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen nach Deutschland erlaubt, die hier gar nicht gewonnen werden dürften?

Es ist, so meine ich, ein verbreiteter, scheinbar plausibler Utilitarismus, der sich unserer Ethik mehr und mehr bemächtigt und uns den festen Halt verlieren lässt.

Nicht wenige christliche Moraltheologen und Sozialethiker flüchten sich, statt inhaltlich klar Position zu beziehen, in die Beliebigkeit einer theologiefreien Diskursethik, die nur verschiedene Deutungsmuster aneinanderreiht, ohne sich für das eine oder andere zu entscheiden. Dabei steht doch mit dem menschlichen Leben etwas auf dem Spiel, das Christen nicht zur Diskussion, geschweige denn zur Disposition stellen können und dürfen. In dem Bewusstsein eines Seins, das sich nicht selber verdankt, sondern von Gott stammt, der sich in ihm widerspiegelt, „gibt es keine andere Möglichkeit der Interpretation der Zueignung von Menschenwürde zu Lebewesen, als dass alle menschlichen Lebewesen, die in Entwicklungskontinuität zu uns stehen [...], Träger dieser Würde sind und deshalb den Lebensschutz beanspruchen können“[47].

Wenn aber selbst weite Teile der Theologie orientierungslos sind, kann es nicht wirklich überraschen, dass viele Menschen den Heil(ung)sversprechen von manchen Stammzellforschern Glauben schenken und die Embryonen, die dafür geopfert werden müssen, gering schätzen.

Gewiss, so werden sie vielleicht denken, wir alle waren einmal Embryonen, aber das ist doch schon lange her und wird sich, glaubt man nicht an Wiedergeburt, nicht wiederholen. Aber älter werden wir alle, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar alt, und dann warten Krankheiten auf uns, von denen nicht wenige gegenwärtig noch unheilbar sind und erhebliche Leiden mit sich bringen. Mögen die Aussichten, dass wir selbst noch in den Genuss der Entwicklung von Therapien mit embryonalen Stammzellen kommen, auch gering sein, ausschließen lässt sich dies nicht. Warum also nicht mit diesen Zellen forschen und an Forschungserfolgen partizipieren? Weil dafür Embryonen vernichtet werden mussten? Aber sind das überhaupt schon Menschen? Sieht so wie eine Zygote oder Blastozyste etwa ein Mensch aus?, lautet die unausgesprochene Suggestivfrage.

Nun wissen wir es eigentlich besser und dürften uns daher weder verbal noch optisch irreführen lassen. Ja, so sieht er ganz zu Anfang aus, der Mensch, müssten wir antworten. Wer Mensch und damit Person ist, ist es schon immer, von Anfang an. Auch bevor sein äußeres Erscheinungsbild sich unserer eingebildeten Vorstellung davon, wie ein Mensch auszusehen hat, angenähert hat, ist der Embryo kein Fabelwesen, das sich erst in einer unerklärlichen Metamorphose plötzlich zum Menschen wandelte, sondern schon ganz Mensch, ein und derselbe Mensch, eben nur in einem früheren Entwicklungsstadium.

Vielleicht rührt sich daher doch noch unser Gewissen.

Aber Mitleid mit Embryonen? Ist es nicht schlechterdings unmöglich, sich in einem Embryo im Mehrzellstadium „einzufühlen“[48]? Nun kann mangelndes Mitgefühl sicherlich nicht die Aberkennung von Menschenwürde rechtfertigen[49]. Menschenwürde ist keine Frage des Mitgefühls; und ob dieses aufgebracht wird, hängt im übrigen nicht nur von dem ab, dem es entgegengebracht werden soll, sondern auch von dem, der es einem anderen entgegenbringen soll: Kein Mitleid haben die Gefühllosen. Aber Emotion kann, wie die Reaktion auf die geradezu handgreifliche Problematik der Spätabtreibungen zeigt, unserem Unrechtsbewusstsein auf die Sprünge helfen, und ohne innere Anteilnahme fehlt das bisweilen Orientierung vermittelnde, wie ein innerer Kompass fungierende Rechtsgefühl.

Darf man Embryonen töten? Wenn sie doch „überzählig“ sind? Die Wortwahl ist Programm. War ursprünglich von „verwaisten Embryonen“ die Rede, eine Wendung, die unerwünschte Zuwendung auslöst – eines Waisen nimmt man sich fürsorglich an –, so signalisiert Überzähligkeit einen nur scheinbaren Verlust, der in Wirklichkeit gar keiner ist. Wer überzählig ist, den müsste, ja den dürfte es doch eigentlich gar nicht geben, der sollte sich gefälligst – dem Tode geweiht, dem Leben gewidmet –  wenigstens noch nützlich machen.

Und für die im Ausland bei der Stammzellgewinnung vernichteten Embryonen kann der deutsche Staat doch ohnehin nichts mehr tun. Ist es angesichts dessen nicht sinnlos, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland mit verfasssungsrechtlichem Rigorismus gegen die Chancen der modernen Biomedizin sperrt, die dann eben anderswo, in Ländern mit „liberaleren“ Regelungen, realisiert werden?

Wer dann immer noch nicht schwach geworden ist, wird mit der Unterstellung konfrontiert, dass auch er seinen rigorosen Standpunkt doch nicht wird durchhalten können und wollen. Sobald die erste auf die Erforschung embryonaler Stammzellen zurückzuführende Therapie verfügbar sein wird, werden, so Professor Schoeler, der Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin Münster, „auch deutsche Patienten – zu Recht – darauf dringen, sie zu erhalten“[50]. Nein, zu Unrecht, wie wir erkannt haben, wohl aber menschlich verständlich. Gibt es etwa irgend jemanden, der nicht geheilt werden will?

Ja, es gibt Menschen, die nicht um jeden Preis geheilt werden wollen, für die der Preis, der bei verbrauchender Embryonenforschung gezahlt werden muss, zu hoch ist, und die darauf hoffen, nicht schwach zu werden, wenn sie bei eigener schwerer Erkrankung versucht sein könnten, auf Therapien zurückzugreifen, für deren Entwicklung Embryonen vernichtet werden mussten. Ethik, die keinen Preis hat, die keinen Verzicht auf als unethisch anerkanntes Verhalten fordert, ist nichts wert (E. Schockenhoff).

„Hauptsache, gesund!“– diese volkstümliche Satz kann unter dem Grundgesetz, das der Würde des Menschen verpflichtet ist, keine Geltung mehr beanspruchen. Für das Grundgesetz, das macht der erste Artikel des Grundgesetzes unmissverständlich klar, ist die Achtung und der Schutz der Menschenwürde das Wichtigste und unbedingt Vorrangige. Eine „Ethik des Heilens“, die hinter diese Einsicht und Werteinschätzung zurückfällt, ist heillos und bedarf entschiedener, notfalls selbstloser Zurückweisung.



[1] BT-Drs. 14/8394, S. 7 f.

[2] BVerfGE 47, 327, 367; siehe auch E 90, 1, 11 f.

[3] BVerfGE 35, 79, 113; 47, 327, 367.

[4] Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, in: Lukes/Scholz (Hrsg.), Rechtsfragen der Gentechnologie (1986), 88, 90 f.

[5] F. Hase, Freiheit ohne Grenzen?, in: FS Isensee (2007), 549, 558.

[6] W. Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: M. Bäuerle/A. Hanebeck u.a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? (2004), 53, 65. Siehe ferner C. Hillgruber, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung – Zu den tatbestandlichen Grenzen grundrechtlicher Freiheit. in: FS Isensee (2007), 561-576.

[7] Vgl. nur I. Pernice, in: Dreier [Hrsg.], GG I (22004), Art. 5 III [Wissenschaft] Rn. 30.

[8] B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte (232007), Rn. 626.

[9] BVerfGE 109, 279, 312 f.

[10] Vgl. A. Süsterhenn, 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 11.01.1949, abgedr. in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II (1993), 910, 912.

[11] Siehe nur M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70.

[12] BVerfGE 45, 187, 228.

[13] Vgl. BVerfGE 24, 119, 144.

[14] So bereits C. Hillgruber, in: de Wall/Germann (Hrsg.), FS Link (2003), 637 (652).

[15] C. Schmid, 4. Sitzung des Aussschusses für Grundsatzfragen am 23.9.1948, abgedr. in: Der Parlamentarische Rat 5/I, 64.

[16] Siehe hierzu C. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, (1997), 431 m. Fn. 304.

[17] Zu den Begrifflichkeiten G. Damschen/D. Schönecker, in: dies. (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen (2003), 187 (204 m. Fn. 26).

[18] BVerfGE 87, 209 (228); 96, 375 (399).

[19] BVerfGE 88, 203 (251). Siehe auch BVerfGE 88, 203 (252): „Dieses Lebensrecht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht, ist das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht; es gilt unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen, über die der Rechtsordnung eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates kein Urteil zusteht“.

[20] BVerfGE 39, 1 (41).

[21] BVerfGE 88, 203 (252).

[22] BVerfGE 88, 203 (267).

[23] BVerfGE 88, 203 (251).

[24] Das BVerfG stellt maßgeblich darauf ab, dass „es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben [handelt], das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt“ (BVerfGE 88, 203 [251 f.]).

[25] Das räumen auch Kritiker der Rechtsprechung wie R. Merkel, Forschungsobjekt Embryo (2002), 56 ein.

[26] BVerfGE 115, 118 (139).

[27] In der Literatur wird mit Recht darauf hingewiesen, dass die genetische Einzigartigkeit des Embryos schon vor der sog. Verschmelzung, nämlich mit dem Abschluss der zweiten Reifeteilung und dem Ausstoßen des zweiten Polkörpers festgelegt und der Prozess zum biologisch-heteronomen und dann biologisch-autonomen Embryo unter normalen Bedingungen unumkehrbar angestoßen ist (Damschen/Schönecker, in: dies. (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen (2003), 187 [243]). Es gibt daher gute Gründe, bereits das Ende der zweiten Reifeteilung – das sog. Pronukleusstadium – als den Anfang des neuen Menschen, sein »Entstehen« zu bezeichnen. So bereits Bodden-Heinrich/Cremer/Decker/Hepp/Jäger/Rager/Wickler, in: Rager (Hrsg.), Beginn, Personalität und Würde des Menschen (21998), 15 (152).

[28] Rager, ZfL 2004, 66 (67).

[29] Die Bundesjustizministerin hat in der Debatte am 11. April 2008 noch einmal bekräftigt, dass sie diese Auffassung nicht teilt: „Aber selbst wenn man – anders als ich es tue – davon ausgeht, dass dieser Embryo in der Petrischale eine Menschenwürde besitzt, […]“ (Plenarprotokoll 16/155, 16303).

[30] Der Würdeanspruch des Embryo in vitro, in: Söllner u.a, GS Heinze (2005), 357 (365).

[31] BT-Drs. 14/8394, S. 7.

[32] BT-Drs. 14/8394, S. 8.

[33] U.a. R. Müller-Terpitz, Das Recht der Biomedizin (2006), 52.

[34] Richtig Schachtschneider/Siebert, DÖV 1999, 129 (133f.).

[35] J. Isensee, in: Höffe/Honnefelder/ders./Kirchhof, Gentechnik und Menschenwürde (2002), 37 (72).

[36] Da der Gesetzgeber nur durch ein striktes Import- und Verwendungsverbot die Achtung zum Ausdruck bringen kann, die er auch den im Ausland im embryonalen Stadium ihrer Entwicklung zur Stammzellgewinnung vernichteten Menschen schuldet, bedarf die Frage, ob die postmortale Achtungspflicht einer Abwägung mit gegenläufigen Verfassungsgütern überhaupt zugänglich ist, keiner Entscheidung (bejahend wohl BVerfGE 30, 173 [196], kategorisch a.A. BVerfG-K NJW 2001, 2957 [2958f.]).

[37] BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto.

[38] A.A. R. Müller-Terpitz, Das Recht der Biomedizin (2006), 52; differenzierter zur Frage der territorialen Reichweite des Art. 1 Abs. 1 GG H.-G. Dederer, JZ 2003, 986 (993 Fn. 70).

[39] Diese Formulierung gebrauchte die Abg. Flach (FDP) in der Debatte des Deutschen Bundestages am 11. April 2008 (Plenarprotokoll 16/155, 16289).

[40] BVerfGE 115, 118 (152, 158).

[41] W. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG (42007), Art. 1 Rn. 25 unter Hinweis auf BVerfG a. a. O.

[42] C. Hillgruber, in: de Wall/Germann, Bürgerliche Freiheit und christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link (2003), 638ff. Zu dieser Frage neuerdings auch – mit der berechtigten Forderung, alle Implikationen der Position, der Embryo sei Person, zu artikulieren – M. Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion (2008), 144 f.

[43] Vgl. dazu nur C. Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar (²2001), Art. 28 Rn. 15 m.N.

[44] Siehe nur R. Streinz, Europarecht  (72005), § 12 II 5 c) bb), Rn. 866, S. 331.

[45] Vgl. BVerfGE 89, 155, 172 sowie zu Art. 24 Abs. 1 GG BverfGE 73, 339, 375 f.

[46] EuGH, Rs. C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH/Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Slg. 2004, I-9609.

[47] D. Mieth, Das Proprium christianum und das Menschenwürde-Argument in der Bioethik, in: Theologische Quartalsschrift 180 (2000), 252-271, 261.

[48] So im Anschluss an B. Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes (2002), 15 f. U. Volkmann, Staatsrecht  II Grundrechte (2007), § 5 Rn. 31, S. 67.

[49] Wer kann sich eigentlich in die Lage eines Wachkomapatienten hineinversetzen? Niemand, der diesen Zustand nicht selbst erlebt hat, und doch legen neueste Untersuchungen nahe, dass sie entgegen unseren bisherigen, durch äußerlichen Eindruck gewonnenen, vordergründigen Annahmen eine erstaunlich ausgeprägte Gefühlswelt haben.

[50] Deutscher Bundestag, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Schriftliche Stellungnahme, A-Drs. 16 (18) 336c.


 
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